Wie Andrea Kuhl einfach „da sein“ konnte

- ein persönlicher Bericht von Julius Kuhl -

 

 

Andreas äußerlich bescheidenes Auftreten ging mit einer großen inneren Würde, Festigkeit und Stärke einher (das Wort Andrea bedeutet ja auch „die Starke“). Als bei ihr im Juni 2005 eine der schlimmsten Krebsarten erkannt wurde, sagte mir ein emeritierter Philosophie­professor, bei dem wir einige Male zu Besuch waren, in einem Trost und Mut machenden Gespräch: „Ihre Frau hat eine große innere Festigkeit“. Wie er das sagen konnte, obwohl bei unseren Besuchen in seinem Haus fast nur er und ich über Philosophisches redeten, während sie ruhig auf dem Sofa saß und uns zuschaute! Mich hat seine spontane Analyse zuerst verwundert. Es war aber nicht schwer zu erraten, wie er auf diese Einschätzung kam: Andrea war dem Gespräch aufmerksam gefolgt, ohne jedes Zeichen von Langweile, innerer Abwe­sen­heit oder gar Ungeduld. Sie musste von sich aus auch nichts dazu sagen, etwa um sich irgendwie zu beweisen. Sie identifizierte sich voll mit der Situation, die in diesem Fall nicht primär ihre Hauptinteressen, sondern meine philosophische Neugier ansprach. Es ist gar nicht einfach jemandem, der nicht dabei gewesen ist, das Besondere dieser Situation zu vermitteln. Vielleicht lag es darin, dass sie sich so ganz auf das Geschehen einlassen konnte, ohne etwas beabsichtigen oder tun zu müssen, ohne sich zu fragen, was sie denn nun davon habe oder was die anderen über sie denken würden. Ich glaube, es hat ihr Freude gemacht, einfach zu beobachten, wie sich zwei Männer in ganz unterschiedlichen „Sprachen“ versuchten zu verständigen, wie sie von einer inneren Neugier bewegt waren, den anderen zu verstehen und dem Bedürfnis, sich verständlich zu machen. Ohne dass es mir bewusst wurde, fühlte ich wohl, dass sie verstand, was in dieser Situation an tiefen Bedürfnissen mitschwang, welche Gefühle hinter all dem intellektuellen Hin- und Her erahnbar waren und dass diese für den Beobachter ziemlich akademischen Themen von der Antike bis zur Postmoderne letztlich ganz existenzielle Fragen der beiden diskutierenden Männer berührten (es ging z. B. darum, dass schon bei Homer aletheia und logos, Wahrheit und Vernunft zusammengingen).

 

Andrea Kuhl hatte die wertvolle und seltene Fähigkeit, sich auf einen Moment einzulassen und dabei sich selbst und die andere Person als Ganzes zu spüren. Das ist gar nicht so einfach, weil wir im Alltag dann, wenn wir ganz in einem Moment aufgehen, allzu leicht die Fähigkeit verlieren, gleichzeitig auch Schwieriges, Schmerzhaftes oder Widersprüchliches zu sehen. Das aber ist wichtig, wenn man wirklich sich selbst und anderen gerecht werden will und wenn wir die Menschen, auf die wir zugehen, wirklich verstehen wollen. Ohne die Fähigkeit, sich und andere als Ganzes zu spüren (mit allen Schwächen, Widersprüchen und schmerzlichen Erfahrungen), bleiben noch so intensiv erlebte Momente flüchtig und hinterlassen meist keine nachhaltigen Spuren.