Menschen als Persönlichkeiten achten und bei ihrer Identitätsbildung begleiten

- Praktische Geschichten zur PSI-Theorie -  


Ein Praxisbericht von Erwin Müller (Rektor, Grundschule Plattling)

 

Vor einiger Zeit befanden sich mehrere Jugendlichen im Rahmen eines Projekts „Zeit für Helden“ auf dem Pausenhof der Grundschule Plattling. Sie bauten ein Häuschen aus Holz, ein Spielhaus beziehungsweise Gerätehaus für die Grundschule. Zeitgleich hatten die Kinder des Ganztages der Grundschule nachmittags Unterricht, beziehungsweise Spielfreizeit.


Als Schulleiter der Grundschule saß ich bei den Jugendlichen, hatte eine kleine Stärkung zum Essen besorgt und beobachtete die Kinder und die Jugendlichen beim Projekt. Es fiel mir auf, dass ein Jugendlicher sich nicht am Bauprojekt beteiligte, sondern die ganze Zeit bei den spielenden Kindern der Grundschule war, mit den Kindern spielte, sie tröstete, wenn sie hingefallen waren, den Kindern half mit manchen Spielgeräten umzugehen und noch vieles mehr.


Ich rief den Jugendlichen zu mir her und fragte ihn wie er heißt. Zögernd und mit gesenktem Kopf kam er zu mir und bevor er mir seinen Namen nannte, erklärte mir, sich entschuldigend, dass er nicht am Projekt mithelfen konnte, da er in einem anderen Zusammenhang in der Schule war. Er war zwar auch im Rahmen „Zeit für Helden“ an der Schule, aber mit den anwesenden Mittelschülern habe nichts zu tun hatte. Auf die Frage was er dann so mache antwortete er Folgendes:

„Ich kann nix. Ich bin an der Mittelschule schon gescheitert. Ich warte derzeit auf eine Berufsfördermaßnahme, weil ich schon die zweite Lehre abgebrochen habe.“

 

Ich fragte ihn wiederum nach dem Namen und erklärte, dass ich ihn nicht schimpfen wollte, sondern dass mir aufgefallen ist, wie wunderbar er sich mit meinen Grundschülern beschäftigt, was absolut nicht selbstverständlich sei für einen Jugendlichen in seinem Alter. Während ich dies sagte, richtete er sich plötzlich körperlich auf (seine Haltung veränderte sich) und mit Stolz erzählte er mir, dass er bereits Onkel sei und sich mit Liebe und Hingabe mit seinen beiden Neffen beschäftige. Ich fragte ihn, ob er sich vorstellen könnte dies auch beruflich zu tun, beziehungsweise in einem Hort oder in der Mittagsbetreuung zu arbeiten. Seine Augen begannen zu leuchten.

 

Als ich ihm auch noch anbot am nächsten Tag an die Schule zu kommen, damit wir dann telefonieren könnten wegen einer Lehrstelle in dem Bereich Kinderbetreuung, beziehungsweise eine Anmeldung an einer Ausbildungsschule freut er sich umso mehr. Tatsächlich war dieser Junge namens Nikita am nächsten Morgen bereits vor mir um 7:00 Uhr an der Schule.

 

Wir haben es dann tatsächlich geschafft zusammen mit der Jugendsozialarbeiterin eine Stelle an einer Ausbildungsschule für diesen Jungen zu finden. Zwei Jahre später ist mir dieser Junge begegnet, hat über die andere Straßenseite zu mir her gerufen und mit Stolz verkündet, dass er jetzt kurz vor dem Abschluss stehen.

Da hat sich ein Leben in eine ganz andere Richtung entwickelt und zwar aufgrund einer einzigen Begegnung, aufgrund von ein paar gesprochenen Sätze von einem Lehrer beziehungsweise Rektor direkt aus meiner Intuition heraus.  

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